Schmerzen können chronisch werden. Dabei spielt das Schmerzgedächtnis eine wesentliche Rolle. Doch wie entsteht es? Lässt es sich verhindern? Oder gar wieder löschen? Ergebnisse der neuronalen Grundlagenforschung geben Anlass zur Hoffnung auf die Entwicklung von Arzneimitteln, die das Schmerzgedächtnis löschen oder seiner Entstehung vorbeugen können.

 

Die Entstehung des Schmerzgedächtnisses ist ein komplexer, andauernder und nicht immer eindeutig definierbarer Prozess. Am Anfang stehen meist starke, akute Schmerzreize. Wiederholen sich diese intensiven nozizeptiven Reizungen, beeinflusst dies das zentrale Nervensystem in biochemischer, funktioneller und morphologischer Hinsicht. Daraus resultierende Veränderungen können zu einem dauerhaft anhaltenden Schmerz führen.1 Dies hat nicht nur molekulare Modifikationen der neuronalen Zellen zur Folge, sondern führt auch zu einer veränderten Signalübertragung von Schmerzen im Gehirn und Rückenmark. Das Mittelhirn, Strukturen des Thalamus, Kortex und das limbische System sind an der Ausbildung des Schmerzgedächtnisses beteiligt. Dendriten von Nervenzellen mit ihren Dornenfortsätzen reich an synaptischen Kontakten weisen ein hohes Ausmaß an funktionaler und struktureller Plastizität auf.

Durch eine Veränderung der Signalübertragung an den Synapsen können Dendriten und ihre Dornenfortsätze Informationen speichern. Dieser Vorgang ermöglicht lebenslanges Lernen, ist aber auch verantwortlich für negative „Lerneffekte“, wie der Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses. Treten Schmerzen intensiv, wiederholt oder chronisch auf, können sie dazu führen, dass die Weiterleitung von Schmerzsignalen dauerhaft verstärkt wird. Zudem können Strukturen zerebraler Nervenzellen verändert werden.1

Das Schmerzgedächtnis kann zur gesteigerten Empfindlichkeit nozizeptiver Nervenzellen führen.2 Zudem können diese Veränderungen nicht ohne Weiteres rückgängig gemacht werden. Das Schmerzgedächtnis besteht selbst dann fort, wenn die Ursache des chronischen Schmerzes behoben wurde. Der Schmerz entwickelt einen eigenständigen Krankheitswert.1 Als Folge können ein gesteigertes Empfinden von Schmerzreizen (Hyperalgesie), eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie) oder Schmerzen, die spontan auftreten, entstehen.2

 

Mannigfaltige Faktoren der Schmerzchronifizierung

Bei der Chronifizierung von Schmerzen spielen vielfältige Faktoren eine Rolle. So können Prozesse im neuroanatomischen und neurophysiologischen Bereich beteiligt sein so wie auch psychosoziale Faktoren. Daher führen rezidivierender Schmerz von gleicher Intensität und gleichem Verlauf nicht bei jedem Patienten zur Entstehung eines Schmerzgedächtnisses und dieses kann zudem hinsichtlich seiner Ausprägung stark variieren.1

Leiden Patienten unter Muskelverspannungen, chronisch-entzündlichen Prozessen, Einschränkungen von körperlichen Funktionen oder mangelnder körperlicher Kondition, so werden sie Schmerzen im Vergleich zu Individuen ohne Einschränkungen wesentlich schlechter verarbeiten. Daher ist bei Patienten mit solcherlei Einschränkungen das Risiko, ein Schmerzgedächtnis auszubilden, bedeutend höher.1

 

Das Schmerzgedächtnis verhindern

Da lang andauernde oder sehr starke Schmerzen zum Umbau der Verbindungen von Nervenzellen und somit zu Schmerzchronifizierung führen können, sollten solche Schmerzen vermieden werden. Präventiv sollten starke Schmerzen zu jedem Zeitpunkt der Therapie minimiert werden. Die maximale Schmerzreduktion ist daher das allgemeine Ziel einer optimalen Schmerztherapie. Dies gelingt in den meisten Fällen nur mittels multimodalem Behandlungskonzept. In Abhängigkeit von der Schmerzursache können Entzündungshemmer, Opioide, Antidepressiva sowie Antiepileptika angewendet werden. Von immenser Bedeutung im multimodalen Konzept sind zudem physikalische und psychologische Behandlungsmaßnahmen.1

 

Umprogrammieren oder Löschen?

Die neuronale Plastizität ermöglicht neben dem Lernen auch das Vergessen. Generell kann das Nervensystem daher bereits Erlerntes wieder vergessen.1 Aufgrund der Veränderungen im Nervensystem bedingt durch chronischen Schmerz ist der Prozess der Reversibilität allerdings erschwert.1

Das Schmerzgedächtnis lässt sich nach derzeitigem Kenntnisstand pharmakologisch nicht einfach wieder löschen.2 Es ist jedoch möglich, das Schmerzgedächtnis mit einer gezielten Schmerztherapie umzuprogrammieren. Dabei werden im Rahmen eines multimodalen Ansatzes mehrere Maßnahmen kombiniert und individuell auf den einzelnen Patienten abgestimmt.3 Eine mögliche Maßnahme ist die Einnahme von Medikamenten. Sie können sich positiv auf das Schmerzgedächtnis auswirken, indem sie die Weiterleitung von Schmerzsignalen und deren Verarbeitung beeinflussen und die körpereigenen Schmerzmechanismen dämpfen, vorausgesetzt die Analgesie ist gleichbleibend. Nervenzellen könnten damit wieder in den physiologischen Ausgangszustand zurückversetzt werden.4 Aber auch die elektromedizinische Reizstromtherapie TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation), Wärme- und Kälteanwendungen oder Akupunktur können das Schmerzgedächtnis beeinflussen. Physikalisch-medizinische Anwendungen können die Signaltransduktionswege aktivieren und die Signalübertragung an den Synapsen von Nervenzellen abschwächen. Veränderte Signalkaskaden im Rückenmark und Gehirn können so wieder in eine physiologische Funktion zurückgeführt werden.2

Es gibt also nicht das eine Schmerzmittel oder die eine Methode, um das Schmerzgedächtnis umzuprogrammieren. Darüber hinaus spielt der Patient selbst beim „Re-Learning“ eine wichtige Rolle. Wenn er seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge fokussiert anstatt auf seine Schmerzen, kann sich das ebenfalls positiv auf das Schmerzgedächtnis auswirken.5 Auch multimodale Therapieansätze inklusive physiotherapeutischer und unterstützender psychologischer Methoden wie etwa Entspannungs- und Motivationstherapie und kognitiver Verhaltenstherapie können für das Umprogrammieren des Schmerzgedächtnisses förderlich sein. Für alle Maßnahmen gilt jedoch: je länger ein Schmerz sich chronifiziert und manifestiert, desto schwerer wird es, ihn positiv zu beeinflussen.1

 

Umstritten: die Wirkung von Opioiden auf das Schmerzgedächtnis

Kontrovers hingegen ist die Studienlage zum Einfluss von Opioiden auf das Schmerzgedächtnis.

Schmerzforschern der Medizinischen Universität Wien und der Universitätsmedizin Mannheim ist es 2012 im Tiermodell gelungen, mit einer hoch dosierten Gabe von Opioiden das Schmerzgedächtnis, das für chronische Schmerzen verantwortlich ist, zu löschen. Dabei wurden die Schmerzfasern der Versuchstiere unter Narkose kontrolliert erregt und die Gedächtnisbildung im Rückenmark aufgezeichnet. Die Forscher konnten nachweisen, dass eine Kurzzeittherapie mit hochdosierten Opioiden Veränderungen an den Synapsen verursacht, die die zelluläre Gedächtnisspur im Rückenmark löschen kann.6

In einer Studie von 2016 an der University of Colorado in Boulder hingegen zeichnete sich ab, dass Opioide die Dauer von neuronalen Schmerzen sogar verlängern und chronifizieren können – und das könne bereits nach kurzer Anwendung möglich sein. Der Grund: Die Opioide führten zur gesteigerten Aktivität der Rückenmarkszellen und führten folglich zur exzessiven Übertragung von Schmerzreizen ans Gehirn, so die Forscher. Die gute Nachricht: Diese Nebenwirkung der Opioid-Substanzen lässt sich offenbar gezielt verhindern, ohne Beeinträchtigung der analgetischen Wirkung der Opioide. So konnten die Forscher in den Mikroglia-Zellen von Ratten entsprechende Rezeptoren deaktivieren. Um eine eindeutige Aussage hinsichtlich der Auswirkung von opioidhaltigen Schmerzmitteln auf das Schmerzgedächtnis treffen zu können, bedarf es weiterer Forschungsarbeiten und Erkenntnisse.7

 

 

Neuronale Grundlagenforschung: Dem Schmerzgedächtnis auf der Spur

Andere Forschungsansätze im Kampf gegen den chronischen Schmerz und das Schmerzgedächtnis beschäftigen sich mit den Grundlagen neuronaler Kommunikation. Wissenschaftler der Universität Heidelberg sowie dem Berliner Max-Delbrück-Centrum und dem Heidelberger Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung konnten gemeinsam mit internationalen Kollegen zeigen, dass ein bestimmter Rezeptortyp in den Nozizeptoren des peripheren Nervensystems, die so genannten AMPA-Rezeptoren, wesentlich zur Entwicklung chronischer Schmerzen beiträgt. Werden diese Glutamatrezeptoren selektiv nur an den Nervenenden deaktiviert, reduziert sich die anhaltende Schmerzempfindlichkeit bei chronischem Entzündungsschmerz bedeutend. Damit könnte ein neuer Ansatzpunkt für die Entwicklung von Arzneimitteln gefunden sein, die das Schmerzgedächtnis löschen oder seiner Entstehung vorbeugen.8

Die Wissenschaftler haben in Tierstudien den Beitrag der AMPA-Rezeptoren zur Entstehung chronischer Schmerzen näher untersucht. Entscheidend scheint dabei zu sein, ob die Rezeptoren für Calcium durchlässig sind oder nicht. Tatsächlich entwickelte sich ein Langzeitgedächtnis für Schmerzreize in entzündetem Gewebe nur bei Vorhandensein intakter AMPA-Rezeptoren, welche diesen Botenstoff passieren lassen. Ziel müsse es nun sein, einen Wirkstoff zu entwickeln, der die AMPA-Rezeptor-gesteuerte Calcium-Permeabilität der Nozizeptoren blockiert und so das Schmerzgedächtnis löscht oder gar nicht erst entstehen lässt, so die Forscher der Universität Heidelberg.8

Diese Studienergebnisse zeigen, dass bei der Übertragung von Schmerzreizen in das zentrale Nervensystem periphere glutamaterge Rezeptoren eine bedeutende Rolle innehaben. Die spezifische Deaktivierung von nicht-synaptischen AMPA-Glutamatrezeptoren in den Nozizeptoren des peripheren Nervensystems könnte demzufolge zur Linderung chronischer Schmerzen beitragen, ohne bedeutende unerwünschte zentrale Effekte zu verursachen.8

 

 

 

 

REFERENZEN

  1. Bruhn, C.: Das Schmerzgedächtnis – Vergessen unmöglich? Dtsch Med Wochenschr 2013;138(27):1394–1395. https://www.thieme.de/statics/bilder/thieme/final/de/bilder/tw_neurologie/schmerzgedaechtnis.pdf, zuletzt aufgerufen in 12/2020.
  2. Sandkühler, J.: Schmerzgedächtnis: Entstehung, Vermeidung und Löschung. Dtsch Arztebl 2001; 98(42): A-2725 / B-2340 / C-2172. https://www.aerzteblatt.de/archiv/29086/Schmerzgedaechtnis-Entstehung-Vermeidung-und-Loeschung, zuletzt aufgerufen in 12/2020.
  3. Kress, M.: Das Schmerzgedächtnis – Entstehung, Vermeidung und Löschung. Deutsche Schmerzhilfe. 30.03.2019. https://www.schmerzhilfe.de/schmerzgedaechtnis, zuletzt aufgerufen in 12/2020.
  4. Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS). Kann man Schmerzen erlernen und verlernen? 08.12.2020. https://www.neuro.med.tu-muenchen.de/dfns/patienten/faq.html#lernen, zuletzt aufgerufen in 12/2020.
  5. Das Schmerzgedächtnis. Umprogrammieren oder sogar löschen? Fibromyalgie-graz.com. 22.08.2016. https://fibromyalgie-graz.com/das-schmerzgedaechtnis-umprogrammieren-oder-sogar-loeschen-moeglich-oder-unmoeglich/, zuletzt aufgerufen in 12/2020.
  6. Drdla-Schutting, R. et al.: Erasure of a spinal memory trace of pain by a brief, high-dose opioid administration. Science. 2012; 335(6065): 235-238. 
  7. Grace, P. M. et al.: Morphine paradoxically prolongs neuropathic pain in rats by amplifying spinal NLRP3 inflammasome activation. PNAS 2016; 113(23): E3441-E3450.
  8. Gangadharan, V. et al.: Peripheral calcium-permeable AMPA receptors regulate chronic inflammatory pain in mice. J Clin Invest 2011;121(4):1608-23.
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